Warum interreligiöses Lernen so schwer ist - Versuch einer integralen Sichtweise
Ausgehend von der These, dass sich der Glaube in Abhängigkeit vom Bewusstsein entwickelt (Hubertus Halbfas) wird anhand neuer Erkenntnisse aus der Bewusstseinsforschung die Entwicklung der verschiedenen Bewusstseinsstrukturen des Menschen (ontogenetisch und phylogenetisch) anschaulich dargelegt und mit Hilfe vieler Beispiele konkretisiert.
Drei Gründe, die interreligöses Lernen so schwer machen, werden untersucht und zur Diskussion gestellt.
- Die unterschiedlichen Bewusstseinsstrukturen der Menschen
- Die theistischen Gottesbilder
- Die Dominanz dogmatischen Denkens (nicht nur) in der christlichen Tradition
Maßgebliche Vertreter verschiedener entwicklungspsychologischer Schulen gehen davon aus, dass es im Menschen ein Organisationsprinzip der Psyche gibt, von dem die Impulse für die – im Idealfall lebenslange – Höher- und Weiterentwicklung ausgehen. Man spricht in diesem Zusammenhang vom empirische Ich oder auch vom Selbst. Verschiedene Seelen- und Bewusstseinsforscher haben diesem Prozess unterschiedliche Namen gegeben. C.G. Jung spricht beispielsweise von Individuation, Jantsch spricht von „Selbstentwicklung durch Selbsttranszendenz“, Piaget beschreibt den gesamten Entwicklungsprozess als „immer weiter abnehmende Egozentrik“ oder „Dezentrierung“. Howard Gardner bringt es auf den Punkt:
„Zuerst haben wir einen Rückgang der Egozentrik. Das Kleinkind ist, wie Piaget es ausdrückt, vollkommen egozentrisch - womit nicht gemeint ist, das es ausschließlich an sich selber denkt, sondern in Gegenteil, dass es unfähig ist, an sich selbst zu denken. Das egoistische Kind kann sich nicht von der übrigen Welt differenzieren, es erfährt sich nicht als getrennt von anderen oder von den Dingen. Deshalb meint es, dass andere seinen Schmerz und seine Lust auch empfinden, dass sie sein Brabbeln verstehen, dass alle Wesen die Dinge so sehen wie es selbst, dass sogar Tiere an seinem Bewusstsein teilhaben. Beim Versteckspielen wird es sich direkt vor der Nase anderer verstecken, weil seine Egozentrik es nicht erkennen lässt, dass andere sehr wohl wissen, wo es sich aufhält. Der gesamte Verlauf menschlicher Entwicklung lässt sich als fortschreitende Abnahme der Egozentrik betrachten."
Howard Gardner, zitiert nach Ken Wilber, EROS, KOSMOS, LOGOS, Ffm 2002, S. 318, Hervorhebung von mir (MS)
Auch in der religiösen Reifung sehen wir diese Entwicklungsrichtung: ausgehend vom magischen Denken des Kindes hin zu einer reiferen und umfassenderen Selbst- und Weltsicht, die immer mehr - und schließlich auch widersprüchliche - Perspektiven berücksichtigen und integrieren kann.
Diese Entwicklung wird anhand konkreter Beispiele entfaltet und schließlich zur Diskussion gestellt.
2. Naturwissenschaft und Religion - die Versöhnung von Wissen und Weisheit; Religionsunterricht in moderner Zeit
Wie kann man heute noch von religiösen Dingen sprechen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, von vorgestern zu sein? Als sich vor etwa 300 Jahren für breite Bevölkerungsschichten der Schwerpunkt des allgemeinen Bewusstseins von einer mythischen hin zu einer rationalen Weltsicht verschob, hatte das einen explosionsartigen Zuwachs an naturwissenschaftlichem Wissen zur Folge. Fast zwangsläufig ergab sich daraus der Zerfall der Glaub-würdigkeit der mythologischen Erklärmodelle, die bis dahin unangefochtene Gültigkeit hatten. „Die Gottesrede der antiken und mittelalterlichen Welt kann in der Moderne nicht unverändert weitergeführt werden, ohne naiv zu wirken.“
Der Theologe Hubertus Halbfas hat mit seinem epochalen didaktischen Ansatz der religiösen Sprachlehre allen Religionslehrern eine unschätzbare Hilfe an die Hand gegeben, wie man in heutiger Zeit von religiösen Dingen sprechen kann, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, von Dingen zu reden, die jede aktuelle Relevanz entbehren. Sein Spiralcurriculum beginnt in der ersten Klasse und zieht sich durch bis zum Ende der Sekundarschule in Klasse 10. Wer diese Denkschule durchlaufen hat, wird auskunftsfähig gegenüber kritischen Anfragen und immunisiert gegen falsch verstandene dogmatische Engführungen und Missverständnisse.
Dass die Botschaft der Kirche heute immer weniger verstanden wird, liegt u.a. an der mangelhaft ausgebildeten „religiösen Sprachkompetenz“ des modernen Menschen, ein Versäumnis - nicht nur aber auch - des traditionellen Religionsunterrichts.
3. Von der Magie zur Mystik
Glaube und Aberglaube liegen nahe beieinander und es ist nicht so einfach das eine vom anderen sauber zu unterscheiden.
Meister Eckhart, sagt wiederholt, „dass etwas in der Seele ist, das Gott so verwandt ist, dass es eins ist und nicht ver-eint." Ebenso sprachen die islamischen Mystiker, etwa Rumi, Bistumi oder Halladsch: „Wenn du mich siehst, siehst du ihn, und wenn du Ihn siehst, siehst du uns beide.“ Auch das hinduistische Advaita-Denken (Shankara, Ramakrishna, Ramana Maharshi), das jeden Dualismus ablehnt, räumt keinen Unterschied zwischen dem göttlichen Brahman ein, weil Brahman die Realität ist, die allen Erscheinungen zugrunde liegt. Der Buddhismus (Huang-po, Hakuin, Shunryū Suzuki) spricht nicht minder von dieser letzten Einheit, so dass sich seit einigen Jahrzehnten japanische Zen-Buddhisten intensiv Meister Eckhart zuwenden.
Das menschliche Bedürfnis nach Sinn, Transzendenz und Heil übergreift als anthropologische Konstante alle unterschiedlichen kulturellen und religiösen Ausprägungsformen im Raum und in der Zeit.
Hunderttausende von Jahren war die Menschheit im magischen Denken befangen. Schon diese - nach heutigem Erkenntnisstand erste - Bewusstseinsstruktur diente diesem Zweck: Das menschliche Leben mit Sinn zu erfüllen, sich als „heil“ zu erleben und die Sehnsucht nach höherer Erkenntnis zu bedienen. Erst vor ca. 10 000 Jahren begann eine neue Bewusstseinsstruktur zu emergieren, die demselben Zweck diente und neue - nun mythische - Bilder hervorbrachte, wodurch langsam das Zeitalter der Magie abgelöst wurde.
Im letzten Jahrtausend vor der Zeitenwende bahnte sich eine weitere Bewusstseinsmutation an: Die sogenannte Achsenzeit. Das rationale Denken brach sich Bahn, wenn auch erst in wenigen Menschen. Obwohl die Masse der Bevölkerung dem mythischen Denken verhaftet blieb, war das rationale Denken nicht mehr aufzuhalten, wenn es auch auf immense Widerstände stieß und auch heute noch stößt, weil der Mensch, der im mythischen Denken und Fühlen seinen Schwerpunkt hat, nicht erkennen kann, dass das rationale Denken den Mythos nicht bedroht, sondern im Gegenteil in der Lage wäre, seine innere Wahrheit zum Leuchten zu bringen.
So setzten sich die wenigen Menschen, bei denen diese neue Bewusstseinsstruktur aufgetaucht war, großer Gefahr aus, wenn sie den Mythos - gleich welcher Prägung - rational und kritisch befragten. Der Mythos fordert (blinden) Glauben und Gefolgschaft, weil daraus der Stoff der Gruppenidentität ist, die davon lebt, sich von anderen abzugrenzen und die „Wahrheit“ allein für sich in Anspruch zu nehmen.
Verbunden damit ist natürlich immer auch ein Machtanspruch und der Anspruch auf die Deutungshoheit und somit auf die Sinngebung. Wer anderen Sinnes ist, muss verfolgt, eliminiert oder zumindest bekehrt werden. Seelische Strukturen und manifeste materielle Interessen vermengen sich und tragen zur Konsistenz der vorherrschenden Bewusstseinsstruktur bei. Auch heute kann man beobachten, dass Mythologien unterschiedlichster Provenienz der geistig-seelischen Weiterentwicklung aktiv entgegenarbeiten, indem sie die ihnen zugehörenden Menschen auf die eigene mythische Weltsicht verpflichten oder dies zumindest mit allen Mitteln versuchen - eine Zeitlang geht das gut, bis die Menschen immer deutlicher spüren, dass die mythischen Antworten nicht mehr zu ihren modernen (rationalen) Fragen passen. Dann wenden sie sich - wenn sie können - von diesem Mythos einfach ab.
Bewusstseinsforscher wie z.B. Jean Gebser sprachen schon vor mehr als 60 Jahren davon, dass sich ihrer Meinung nach die nächste Bewusstseinsmutation anbahnt.
Die nebenstehende Grafik versucht zu veranschaulichen, worum es geht: Auf den unteren Bewusstseinsebenen herrscht ein klarer Dualismus, der die Wirklichkeit zunächst in ein DIESSEITS und ein JENSEITS spaltet. Je "höher" man auf der „Bewusstseinsleiter“ steigt, desto mehr rücken diese beiden Dimensionen zusammen. Auch hier begegnet uns wieder das Prinzip, dass Entwicklung darin besteht, das Außen zunehmend zu verinnerlichen und alles, was ist, mehr und mehr zum eigenen Selbst gehörend zu erkennen, um es letztlich als Selbst zu realisieren. Was zunächst völlig unvereinbar und widersprüchlich erscheint, nähert sich im Laufe der Höherentwicklung an, bis es in EINS zusammenfällt. Der mystischen Bewusstseinsstruktur ist evident, dass es außer der einen göttlichen Wirklichkeit, die alles ist, durchdringt, umgreift und übersteigt sonst nichts gibt. Theresa von Avila bringt dies prägnant auf den Punkt in ihrem berühmten Text: Solo dios basta (Gott allein ist). Weitere Texte, die in diese Richtung weisen: Das Reich Gottes ist inwendig in euch (Lk 17,20 und Ich und der Vater sind eins (Jo 10,30).
Fundamentalisten jeder religiösen Prägung (und Konfession) sind sehr dem buchstäblichen Verständnis ihrer Religion (konkret-operational) verhaftet, während die Mystiker jeder Universalreligion in großer Einigkeit, ja oft sogar mit denselben Worte ihre innerseelischen Erfahrungen beschreiben (formal-operational - allumfassend)— wohl wissend, dass jede Beschreibung nur ein verbales Herantasten ist, das dem Kern dessen, was die Seele erfährt, nicht gerecht wird. Menschen, deren Bewusstseinsstruktur bereits aperspektivisch ist, verlieren nicht die Orientierung angesichts vieler verschiedener (und sich widersprechender) Perspektiven - im Gegenteil: Sie können differenzierter denken, kommen mit der Komplexität der Wirklichkeit besser zurecht und können angemessener mit schwierigen Lebenssituationen umgehen.
In jeder Religion (und sogar in jeder Konfession) ist das gesamte Bewusstseinsspektrum vertreten und daher finden wir überall sowohl Fundamentalisten als auch Mystiker und alles, was dazwischen liegt. Daraus folgt, dass es nicht die jeweilige Religion ist, die den Menschen zum einen oder zum anderen macht, sondern dessen Bewusstseinsstruktur.
4. Die Gottesvorstellungen von der Frühzeit bis in die Moderne - das Gottesbild als Dreh- und Angelpunkt religiösen Verständnisses
Durch das Erstarken der Naturwissenschaften ist der Religion die Deutungshohheit über naturwissenschaftliche Zusammenhänge abhanden gekommen, was sich natürlich auch auf das Gottesbild ausgewirkt hat.
Die Gottesidee des Theismus, nämlich GOTT als irgendwie geartetes personales Gegenüber zu denken, verliert zunehmend an Plausibilität, weil es dem modernen Mensch widerstrebt, seine Lebenswirklichkeit in zwei Parallelwelten aufzuspalten (Glaubenswelt und Lebenswelt), in denen jeweils nicht kompatible „Gesetze“ gelten:
Wo ist GOTTES Allmacht angesichts soviel Ohnmacht?
Wo ist GOTTES Barmherzigkeit angesichts soviel Grausamkeit?
Wo ist GOTTES Allgegenwart angesichts seiner unerfahrbaren Präsenz?
Wo ist GOTTES All-Liebe angesichts der Lieblosigkeit
Wo ist GOTTES Allgerechtigkeit angesichts so vieler himmelschreiende Ungerechtigkeit?
Die Gottesidee des Theismus ist ein Überbleibsel aus mythologischer Zeit, in der die Götter oder Gott nach menschlichen Vorstellungen Form angenommen hatten. Die Ansätze zur Überwindung des Theismus finden sich bei genauem Hinsehen bereits in der Hauptlinie der Bibel: dem Verbot jeden Gottesbildes.
Ein weiterer Schritt lag in der Definition des Menschen als Gleichnis GOTTES, welche die EHRE Gottes mit der ACHTUNG vor dem Menschen verknüpft. Eine weitere Schneise, die über den üblichen Theismus der Religionsgeschichte hinausführt, schlägt Ex 33,20-23: „denn nicht sieht mich der Mensch und lebt…“
Die mythologische Vorstellung von Gott mit menschlichen Eigenschaften und in Menschenform verblasst angesichts der immer weiter fortschreitenden Erkenntnissen der Naturwissenschaft. Dass die Kirche ihre eigenen mythologischen Erzählungen mit naturwissenschaftlichen Erklärungen verwechselt, zwingt die Gläubigen dazu, in zwei Welten zu leben, die eigentlich nichts (mehr) miteinander zu tun haben. Dieses Beharren weckte schließlich so viel Widerstand, dass der eigentliche Sinn von Religion fast verloren ging: Unser Dasein im Hinblick auf den existentiellen Seinsgrund hin zu bestimmen und ihm Sinn zu verleihen.
Der Vortrag entfaltet, wie sich die Vorstellungen von GOTT seit der Frühzeit bis heute verändert haben und stellt die Frage, ob und wenn ja wie wir heute von GOTT sprechen können, ohne uns in irritierenden Vorstellungen zu verheddern.
Denn mit der Frage nach Gott bearbeitet der Mensch immer auch seine eigene Identität. Insofern ist Theologie zugleich Anthropologie.
Theos ohne Anthropos ist nicht denkbar. Insofern gelten beide Sätze: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis“ sowie "Und der Mensch schafft Gott nach seinem Bild!“ (Hubertus Halbfas in: Der Glaube, S. 181)